26.11.2021

EU-Behörden nutzten fehlerhafte Industrie-Studien, um Glyphosat zuzulassen - und sie tun es jetzt wieder

Die Zulassung von Glyphosat in der EU basiert auf lange unter Verschluss gehaltenen Industrie-Studien, die angeblich dessen Harmlosigkeit belegen. Inzwischen haben unabhängige Wissenschaftler gezeigt, dass diese Studien gravierende methodische Mängel aufweisen. Nun steht Glyphosat vor der Wiederzulassung in der EU - und bei der Gefahrenbewertung ziehen die europäischen Zulassungsbehörden erneut die selben fehlerhaften Studien heran.

Ist das Pestizid Glyphosat so unbedenklich, dass es in der EU zugelassen werden kann? Um diese Frage kreist ein nunmehr schon jahrelanger Streit. Diese Auseinandersetzung ist immer mehr eine um Studien und ihre Zuverlässigkeit geworden. Studien, die die angebliche Unbedenklichkeit von Glyphosat belegen sollen.

2015 kam die WHO-Krebsforschungsagentur IARC zu dem Schluss, dass Glyphosat “wahrscheinlich beim Menschen krebserregend” ist und sah „starke Beweise für Gentoxizität“. Hierfür schaute sich die WHO-Krebsforschungsagentur alle öffentlich zugänglichen wissenschaftlichen Studien zu Glyphosat an. Drei Viertel dieser Studien berichten von DNA-schädigenden Effekten von Glyphosat.

Warum kommen Industrie-Studien zu einem anderen Ergebnis als veröffentlichte Studien?

Die in der EU für die Bewertung von Glyphosat zuständige Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) kam jedoch zu einem ganz anderen Ergebnis: Die EFSA bewertete Glyphosat als unbedenklich und empfahl die Wiederzulassung für die EU. Hierbei bezog sich die EFSA auf unveröffentlichte Industrie-Studien, die von Monsanto & Co als Teil des Zulassungsantrags eingereicht und in der Folge als „Geschäftsgeheimnisse“ unter Verschluss gehalten worden waren.

Trotz der ungelösten wissenschaftlichen Kontroverse zwischen WHO-Krebsforschungsagentur und EU-Behörde empfahlen letztere im November 2015 die Wiederzulassung von Glyphosat. Ende 2017 wurde Glyphosat für fünf weitere Jahre für die EU zugelassen.

Seitdem fragten nicht nur wir uns bei GLOBAL 2000 wie es sein kann, dass es bei der Gefahrenbewertung eines Pestizids so diametral entgegengesetzte Einschätzungen geben kann zwischen publizierten, wissenschaftlichen Studien und Industrie-Studien? Das Problem war, dass außer den EU-Behörden niemand die geheimen Industrie-Studien einsehen durfte.

 

Labor

Einblick in die bisher geheimen Industrie-Studien

Dies änderte sich 2019 als der Europäische Gerichtshof (EUGH) die EU zur Herausgabe der Industrie-Studien verpflichtete. Eine Gruppe grüner EU-Parlamentsabgeordneter und ein NGO-Aktivist  hatten gegen die Geheimhaltung geklagt und Recht bekommen. Der EUGH urteilte, dass das öffentliche Interesse höher wiege als das Geschäftsinteresse der Glyphosat-Hersteller.

Die NGO SumOfUs beantragte die Herausgabe der bis dato geheimen Studien und erhielt von der EFSA 53 Hersteller-Studien aus dem letzten Zulassungsverfahren (2012 bis 2015). Zwei international renommierte Toxikologen wurden um eine Analyse dieser Studien hinsichtliche ihrer wissenschaftlichen Qualität gebeten; die beiden Wiener Krebsforscher, Prof. Siegfried Knasmüller und Dr. Armen Nersesyan.

Industrie-Studien ein wissenschaftliches “Desaster”

Knasmüller veröffentlichte 255 Artikel in Fachzeitschriften in peer-reviewten Journalen, sowie vier Lehrbücher über genetische Toxikologie. Er hat einen Hirsch-Index von 52 und wurde über 9.000 Mal zitiert. Knasmüller ist außerdem Herausgeber der Zeitschrift "Mutation Research - Genetic Toxicology" und Mitherausgeber der Zeitschrift "Food and Chemical Toxicology". Dr. Armen Nersesyan hat 144 Artikel in peer-reviewed Journalen veröffentlicht und hat einen Hirsch-Index von 32, er wurde mehr als 2.000 Mal zitiert.

Über Monate haben sich die beiden international anerkannten Wissenschaftler durch tausende Seite Material gearbeitet. Was sie dabei fanden, nennt Prof. Siegfried Knasmüller “ein Desaster”. Auf 187 Seiten nehmen die Wissenschaftler die 53 zuvor geheimen Studien auseinander: substanzielle methodische Mängel bei der Durchführung der Studien, unzureichend sensitive Testmethoden, kaum eine Studie entspricht den gängigen OECD-Standards. Von den 53 untersuchten Studien sind nur zwei als zuverlässig einzustufen. Für die Schlussfolgerung der EU-Behörden von 2016, dass Glyphosat nicht gentoxisch sei, reiche eine solch mangelhafte Datenbasis “keinesfalls” aus, so die Wissenschaftler.

Auf dieser fehlerhaften Grundlage wurde im Dezember 2017 das Pestizid Glyphosat für weitere fünf Jahre in der EU zugelassen. "Die Analyse zeigt, auf welch wackeligen Beinen die EU-Zulassung von Glyphosat 2017 stand. Denn zieht man von den 53 Gentoxizitäts-Studien der Industrie all jene Studien ab, die in der Durchführung grob fehlerhaft und im Studiendesign ungeeignet sind, dann bleibt am Ende nichts über außer der Frage, auf welcher Grundlage die EU-Behörden jemals behaupten konnten, Glyphosat sei "nicht gentoxisch", sagt Helmut Burtscher-Schaden von GLOBAL 2000.

Neues Zulassungsverfahren: Ist die Studienauswahl nun anders?

Im Dezember 2022 wird diese Zulassung auslaufen. Deshalb haben die Glyphosat-Hersteller einen neuen Antrag auf Wiederzulassung gestellt - für weitere 15 Jahre. Im September 2021 veröffentlichte die EFSA dazu bereits einen vorläufigen Bewertungsbericht zu diesem Antrag. Hat die EFSA in ihrem Bericht die Kritik von Prof. Siegfried Knasmüller berücksichtigt? Haben die Glyphosat-Hersteller neue, wissenschaftlich belastbarere Studien vorgelegt? Wir wollten wissen, ob in dem neuen Zulassungsverfahren exakter gearbeitet wird, weshalb wir nun auch die Herausgabe der Hersteller-Studien für das neue, aktuell laufende Zulassungsverfahren beantragten. Erneut haben wir Prof. Knasmüller und Dr. Nersesyan gebeten, die Studien anhand der Original-Studienberichte und den darin enthaltenen Rohdaten zu überprüfen und die vorläufige Bewertung der EFSA kritisch zu beleuchten.

Ignorieren die europäischen Zulassungsbehörden auch 2021 die wissenschaftlichen Fehler in den Hersteller-Studien?

Im vorläufigen Bewertungsbericht der EFSA, werden insgesamt 59 Gentoxizitätsstudien mit dem Wirkstoff Glyphosat aufgeführt. Davon wurden 19 als nicht akzeptabel aus der Bewertung ausgeschlossen. Von den verbleibenden 40 Gentox-Studien, die für die laufenden EU-Bewertung der Gentoxizität von Glyphosat relevant sind, haben wir fünf Studien nicht erhalten. Knasmueller und Nersesyan konnten also 35 für das laufende Zulassungsverfahren relevante Gentox-Studien überprüfen.

Knasmueller und Nersesyan fanden, dass mindestens 18 dieser Studien als „nicht zuverlässig“, 15 weitere als „teilweise zuverlässig“ und nur zwei als „zuverlässig“ zu beurteilen sind. Im Gegensatz dazu haben im laufenden Bewertungsverfahren die europäischen Kontrollbehörden 13 dieser Studien als „zuverlässig“ und 27 als „zuverlässig mit Einschränkungen“ (19) bzw. „unterstützend“ (8) eingestuft.

Neben den methodischen Fehlern kritisieren die Wissenschaftler die Auswahl der Testmethoden. In den Hersteller-Studien seien überwiegend Testsysteme angewendet worden, die mehr als 30 Jahre alt sind, während modernere, OECD-standardisierte Testsysteme, die zuverlässige Ergebnisse liefern, nicht zur Anwendung kamen. Dass die Hersteller keine Testsysteme verwenden, die in der Lage wären, Gentoxizität in inneren Organen nachzuweisen - wie dies publizierten Studien bereits taten - ist ein Hauptkritikpunkt der beiden Krebsforscher.

“Wir sehen hier, wie EU-Beamte dran sind, eine weitere Neuzulassung von Glyphosat vorzubereiten. Das ist schlecht“, sagt Dr. Helmut Burtscher-Schaden von GLOBAL 2000.

Damit Glyphosat nicht mehr zugelassen wird, und so die Gesundheit der Menschen und die Umwelt geschützt werden, fordern wir gemeinsam mit anderen Organisationen die ECHA und die EFSA dazu auf, bei der Bewertung der Gentoxizität von Glyphosat, die Beweislast aus der wissenschaftlichen Literatur ebenso zu berücksichtigung wie die besorgniserregenden Erkenntnisse über die mangelhafte Qualität der Hersteller-Studien.

 

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