
Die zum Zeitpunkt des Reaktorunglücks 35-jährige Laborärztin wurde wenige Tage nach der Katastrophe dazu abkommandiert, in Tschernobyl ihren Beitrag zu leisten. Zu jener Zeit war die Ukraine eine rein verstaatlichte Gesellschaft. Der Staat war der einzige Arbeitgeber, alle Menschen dessen Angestellte. Dass sie zu Hause zwei Kleinkinder hatte, von denen eines schwer herzkrank war, interessierte niemanden. Sie musste gehorchen, sonst hätte sie ihren Job verloren.
GLOBAL 2000: Wie begann ihr Einsatz am Unglücksort?
Natalija Tereshchenko: Insgesamt wurden 54 ÄrztInnen und anderes medizinisches Personal aus Kharkov in die Todeszone geschickt. Nachdem wir eine schriftliche Einberufung zum Dienst erhalten hatten, brachen wir wenige Tage später uninformiert und vor allem unvorbereitet nach Tschernobyl auf. Nach einer schrecklichen Fahrt erreichten wir mitten in der Nacht unser Ziel: das städtische Krankenhaus, in nur neun Kilometern Entfernung vom havarierten Reaktor. Dort waren wir stationiert. Gleich am nächsten Tag begann unser Dienst.
Worin bestand Ihre Aufgabe?
Unsere Hauptaufgabe bestand darin, die Blutwerte all jener Menschen zu bestimmen, die in Schichtdiensten nahe dem Reaktor arbeiteten. Wenn der Leukozytenwert zu niedrig war, mussten sie am nächsten Tag pausieren. Wir arbeiteten sieben Tage die Woche bis zu 18 Stunden täglich, und das unter Zeitdruck. Zwei- bis dreihundert Blutproben täglich analysierten wir auf unseren vorsintflutlichen Mikroskopen. Wir mussten die Leukozyten einzeln zählen.
Erhielten Sie Ausrüstung zum Schutz vor der Strahlung?
Nein, wir trugen unsere normalen Arztkittel, die wir abends selber per Hand waschen mussten. Wäschedienst gab es für uns keinen. Wir wussten zunächst gar nicht, in welcher Gefahr wir uns befanden. Mit der Zeit fielen uns aber immer mehr Dinge auf, die uns langsam die Augen öffneten.
Die Kantine, in der wir verpflegt wurden und der Ort, an dem wir unser tägliches Schwitzbad nehmen mussten, lagen außerhalb des Krankenhauses. Am Weg dorthin bemerkten wir, dass das Gras abnormal dicht und grün war. Die Hühner im Hof legten ungewöhnlich viele und übergroße Eier. Eines Tages freuten wir uns über ein paar flauschige gelbe Küken. Am nächsten Tag lagen alle tot in der Wiese. Wir sahen neugeborene Kätzchen, eines davon mit zwei Köpfen, andere vollkommen kahl. Wir beobachteten Vögel, die mitten im Flug vom Himmel fielen. Da bekamen wir Angst. Da die Strahlung im Fensterbereich immer höher ist, drängten wir uns die wenigen Stunden, die uns zum Schlafen blieben, im Türbereich zusammen.