Der Super-GAU von Tschernobyl – Eine Chronologie der Katastrophe
Freitag, 25. April 1986, der Tag vor der Katastrophe. Block 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl wird für die jährliche Revision langsam heruntergefahren. Im Zuge dessen ist ein Experiment an einem der beiden Turbinengeneratoren geplant: Untersucht werden soll, wie sich ein Stromausfall auf den Reaktorbetrieb auswirken würde, und ob die Rotationsenergie des auslaufenden Generators zur Notstromerzeugung genutzt werden kann.
Ein fatales Experiment führt zum Super-GAU
Samstag, 26. April 1986. Es ist kurz vor halb zwei Uhr nachts. Das eigentliche Experiment beginnt im Atomkraftwerk. Noch ahnt niemand, dass sich die größte Nuklearkatastrophe der Menschheit in wenigen Minuten ereignen wird. 1:23 Uhr: Durch Schließen der Turbinenschnellschlussventile beginnt der eigentliche Test. Der Wasserzufluss im Reaktor verringert sich schlagartig. Die Leistung des Reaktors steigt rasant. Eine unkontrollierte Kettenreaktion setzt ein. Schichtleiter Aleksandr Akimov löst sofort manuell die Notabschaltung des Reaktors aus. Dazu werden alle zuvor aus dem Kern entfernten Steuerstäbe wieder in den Reaktor eingefahren. Doch durch die an den Spitzen der Stäbe angebrachten Graphitblöcke dringt der Stab tiefer in den Kern ein. Innerhalb von Sekundenbruchteilen überschreitet die Leistung das Hundertfache des Nennwertes. Die Brennelemente schmelzen. Der gefürchtete Super-GAU, der größte anzunehmende Unfall, tritt ein. Innerhalb weniger Sekunden ereignen sich zwei Explosionen, wodurch die 1.000 Tonnen schwere Abdeckplatte des Reaktorkerns gesprengt wird und das Dach des ganzen Gebäudes aufreißt. Eine große Menge an radioaktiver Materie wird in die Umwelt freigesetzt.
Eine 42 Mann starke Truppe versucht den Brand zu löschen, der sich mittlerweile ausgebreitet hat. Schwarzer Ruß fällt wie Regen auf die Helfer. Was die Helfer zu diesem Zeitpunkt nicht wissen: Der Ruß ist hoch radioaktiv – die Arbeiter werden diese Nacht nur um wenige Wochen überleben. Durch den Unfall werden 30 bis 40 Mal so viel radioaktive Strahlung wie durch die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki freigesetzt. Langsam dreht der Wind und nimmt die radioaktive Rauchwolke mit in Richtung Nordwesten – ins Baltikum und nach Skandinavien – und weiter nach Westeuropa und nach Österreich.
4:30 Uhr: Akimov meldet an die Behörden, dass der Reaktor intakt sei und nur gekühlt werden muss. Auf Grund dieser Information aus dem Atomkraftwerk beschließen die Behörden, die nur drei Kilometer entfernte Stadt Pripjat nicht zu evakuieren. Eine fatale Fehlentscheidung. 49.000 Menschen leben in der Stadt. Bei Tagesanbruch erwacht das Städtchen, die Kinder gehen wie immer in die Schule, die Erwachsenen zur Arbeit.
Sonntag, 27. April 1986. Die Blöcke 1 und 2 werden abgeschaltet. Über dem Reaktor von Block 4 werfen Hubschrauber Tonnen verschiedenster Materialien wie zum Beispiel Bor, Dolomitgestein, Bleibarren, Sand und Lehm ab, um den Brand einzudämmen und um die Freisetzung von Radioaktivität zu verringern. Erst jetzt beginnt die beginnt die Evakuierung der Stadt Prypjat, viel zu spät. Alle Wohngebiete in einer 30 Kilometer-Zone um Tschernobyl sollen geräumt werden. Über 70 Ortschaften im Gebiet Kiew und im weißrussischen Gebiet Gomel werden aufgegeben. Nur wenige Habseligkeiten dürfen mit. Ingesamt sind über 85.000 Menschen von der Evakuierung betroffen.
In Schweden schrillen Alarmglocken
Montag, 28. April 1986. In dem schwedischen Kernkraftwerk Forsmark, über 1200 Kilometer entfernt, wird aufgrund erhöhter Radioaktivität auf dem Gelände automatisch Alarm ausgelöst. Messungen an der Arbeitskleidung der Angestellten ergeben erhöhte radioaktive Werte. Da allerdings die schwedischen Anlagen als Verursacher ausgeschlossen werden können, richtet sich der Verdacht aufgrund der aktuellen Windrichtung gegen die Atomkraftwerke der Sowjetunion. Zur selben Zeit wird auch in Österreich und der Schweiz erhöhte Radioaktivität gemessen. Wind und Regen tragen die Radioaktivität nach Westeuropa, die Öffentlichkeit ist alarmiert.
Doch Moskau leugnet den Atomunfall. Von einem Unfall könne keine Rede sein. Luft und Wasser rund um Kiew seien sauber, es bestehe keine Gefahr, beteuert der Kreml.
Dienstag, 29. April 1986. Erst jetzt, drei Tage nach dem Super-GAU, wird in sowjetischen Quellen von einer Katastrophe sowie von zwei Todesopfern berichtet. Internationale Medien berichten ausführlicher über den Unfall. Einen Tag später wird im sowjetischen Fernsehen ein retuschiertes Foto vom Unglücksort gezeigt. Auch nach einer Woche brennt der Reaktor noch. Immer neue Einsatzkräfte und Helfer werden zum Atomkraftwerk gebracht. Die Kühlung funktioniert nur langsam und die glühende Reaktormasse droht den Beton durchzuschmelzen. Jeder Arbeiter von den so genannten Liquidatoren hat nur wenige Sekunden Zeit, um einige Schaufeln mit Schutt vom Dach des Atomkraftwerks zu werfen, sonst ist die Strahlenbelastung zu groß. 400 Bergleute werden eingesetzt, um den Reaktor zu untertunneln. Damit wird ein provisorisches Kühlsystem mit Stickstoff errichtet. Erst am 6. Mai, zehn Tage nach der eigentlichen Katastrophe, geht die Freisetzung von Spaltprodukten zurück.
Zwei Wochen nach der Reaktorkatastrophe, nimmt der Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, das erste Mal öffentlich Stellungnahme zu dem Unfall und betont in einem Fernsehinterview, dass es sich um außergewöhnliche Ereignisse handelt. Die Opfer der Katastrophe werden mit keinem Wort erwähnt. Bis heute verharmlost die Regierung in Moskau den GAU und behauptet, der Unfall sei überschaubar gewesen. Viele Menschen, die als Feuerwehrleute die Brände im Atomkraftwerk löschen mussten oder als Liquidatoren den Betonsarkophag um die explodierte Reaktorhalle bauten, starben sofort oder kurze Zeit nach ihrem Einsatz. Die anderen von den geschätzten 600.000 Menschen, die an den Aufräumarbeiten beteiligt waren, erkranken wenig später an Krebs.